Bei der Digitalisierung stehen Kommunen, Länder und der Bund vor einer Mammut-Aufgabe. Die digitale Wettbewerbsfähigkeit Deutschlands liegt nur im Mittelfeld der EU-Staaten.[1] Die größte digitale Herausforderung besteht für Deutschland in der Verbesserung der Online-Interaktion zwischen Behörden und den Bürger:Innen.[2] Der Handlungsdruck ist nicht erst seit der Corona-Pandemie groß. Allein mit dem Digitalpakt Schule unterstützt der Bund die Länder und Gemeinden bei Investitionen in die digitale Bildungsinfrastruktur mit Mitteln in Höhe von 5 Milliarden Euro. Das öffentliche Vergaberecht setzt den maßgeblichen Rechtsrahmen.

Digitalisierung in der Verwaltung bedeutet regelmäßig die öffentliche Vergabe von IT-Produkten, Projekten und anderen Leistungen (IT-Vergabe). Die Vergabe von Planungsleistungen durch öffentliche Auftraggeber stellt aber gerade kleinere Vergabestellen vor Schwierigkeiten. Denn die Komplexität des Vergaberechts, verbunden mit einer Fülle von Formblättern und Vergabeunterlagen, ist nicht leicht zu durchdringen. Diese Schwierigkeiten erhöhen sich nahezu exponentiell, wenn es um die IT-Vergabe geht. Treiber sind die schnellen Entwicklungen im IT-Markt und der Bedarf an speziellem Know-How, um die steigende Komplexität von IT-Produkten, IT-Projekten und IT-Leistungen auszuschreiben und später erfolgreich umzusetzen.

So dürfte es niemanden wundern, dass sich im Laufe der Zeit einige Mythen zur IT-Vergabe entwickelt haben. Ob und inwieweit diese ihre Berechtigung haben, klären wir für die 5 größten ihrer Art in diesem Beitrag.

1. Produktspezifische Ausschreibungen sind im öffentlichen Vergabeverfahren unzulässig

Produktneutralität ist einer der wesentlichen Grundsätze und Erfolgsfaktoren des Vergaberechts. Er stellt zum einen die Gleichbehandlung der Teilnehmer (§ 92. Abs. 2 GWB) und zum anderen den Wettbewerb sicher (§ 92. Abs. 1 GWB). Öffentliche Aufträge müssen prinzipiell in einem transparenten und gleichberechtigten Wettbewerb vergeben werden. Produktspezifische Anforderungen, wie z.B. die Ausschreibung von iPads der Marke Apple führten dabei zu einer künstlichen Einschränkung dieses Wettbewerbs. Denn andere Hersteller von Tablets wären automatisch ausgeschlossen.

Bedeutet dies nun, dass produktspezifische Ausschreibungen per se unzulässig sind?

Bin ich gezwungen, andere Tablets zu wählen, auch wenn sich dadurch Risiken für IT-Management und Sicherheit ergeben und der Projekterfolg womöglich gefährdet wird?

Ganz und gar nicht. Produktspezifische Ausschreibungen sind möglich. Jedoch muss die Einschränkung der Gleichbehandlung gut begründet und umfangreich dokumentiert werden. Nach der herrschenden Auffassung ist eine produktspezifische Ausschreibung möglich, wenn objektive sowie auftragsbezogene Gründe gegeben sind und die Wahl transparent getroffen wird. Der öffentliche Auftraggeber sollte daher vorab gründlich prüfen, ob produktspezifische Anforderungen zur Erreichung des Beschaffungsziels notwendig sind.[3] Werden die Voraussetzungen erfüllt, kann der Auftraggeber auch eine produktspezifische öffentliche Ausschreibung tätigen.

Dazu ein Fallbeispiel des OLG Brandenburg einer Schule: Dieses hat die Ausschreibung und Vergabe von iPads als rechtmäßig erklärt, da das in der Schule bestehende Mobile Device Management System lediglich die Apple Geräte in einem vertieften Maße unterstütze und anderenfalls Mehraufwendungen, höhere IT-Risiken sowie durch den Mischbetrieb ein nachteiliger Einfluss auf den Unterricht entstehend könnte. [4]

2. Das wirtschaftlichste Angebot ist im Vergaberecht immer das billigste Angebot

Die Beschaffung soll grundsätzlich zu Marktkondiktionen erfolgen. Der Preis spielt also bei der IT-Vergabe eine besondere Rolle. Er muss aber nicht alleiniges Wertungskriterium sein. Daneben können Qualität, Ausführungsfrist oder andere Aspekte in die Wertung einfließen. Denn der günstigste Bieter ist nicht immer der Beste für die Ausschreibung. 

Der öffentliche Auftraggeber entscheidet selbst, ob er den Auftrag nur nach dem günstigsten Preis oder nach dem wirtschaftlich günstigsten Angebot, also das Angebot mit dem besten Preis-Leistungsverhältnis, vergibt. Bei der Vergabe nach dem günstigsten Angebot gilt es bereits vor der öffentlichen Ausschreibung ein Set von festgelegten Kriterien (vgl. § 127 Abs. 1 GWB) auszuwählen, nach denen die Bewertung der Angebote erfolgt. Dieses gehört in die Vergabeunterlagen.

Für die Festlegung des Kriteriensets und die Bewertung der Angebote bedarf es fachlicher Kompetenz, Ressourcen und Zeit. Im Austausch für den Aufwand erhält die ausschreibende öffentliche Stelle jedoch die Sicherheit den Bieter auswählen zu können, der nicht nur zu einem günstigen Preis liefern, sondern die Leistung in der erforderlichen Qualität und der versprochenen Zeit erbringen kann.

Was sind aber Kriterien für das wirtschaftlich günstigste Angebot?

Neben monetären Kriterien, wie Preis, Betriebs- und Recyclingkosten, können und sollten zur Ermittlung des wirtschaftlich günstigsten Angebotes auch nichtmonetäre bzw. leistungsbezogene Kriterien in das Kriterienset einfließen. Das sind hauptsächlich qualitative, umweltbezogene und soziale Kriterien. Dies sind zum Beispiel Ästhetik, Benutzerfreundlichkeit, Energieverbrauch, Recyclingfähigkeit oder Barrierefreiheit. Der Auftraggeber ist bei der Wahl und Ausformulierung der Kriterien frei. Entscheidend ist nur, dass die Wahl des Bewertungsschemas transparent in der Auftragsbekanntmachung und den Vergabeunterlagen dargelegt wird.

Unabhängig von der Wahl des Bewertungsschemas spielt der Preis eine mehr oder weniger gewichtige Rolle bei der Auftragsvergabe.

Was sollte der Auftraggeber demnach beachten, wenn ihm ein überraschend niedriges Angebot gemacht wird, z.B. mit Stundensätzen für IT-Techniker, die 30% unter dem Marktpreis liegen?

Für diese Situation gibt es Gesetze, die den Zuschlag auf unangemessen niedrige Angebote regeln.[5] Der Auftraggeber soll dadurch vor Bietern geschützt werden, die leistungsunfähig werden, schlecht leisten oder Nachforderungen stellen. Denn dies würde nachträglich zu einer Verteuerung der Beschaffung führen. Auf Angebote mit unangemessen niedrigen Preisen dürfen Sie als öffentlicher Auftraggeber keinen Zuschlag erteilen.

 

3. Nacharbeiten erfolgen so lange, bis die Vergabe passt

Nacharbeiten sind dann zu leisten, wenn Mängel bestehen. Eine Software ist zum Beispiel mangelhaft, wenn von der vereinbarten Leistungsbeschreibung abgewichen wird oder sich die Software nicht für die vorausgesetzte bzw. die gewöhnliche Verwendung eignet. Wichtig ist also, dass die Leistungsbeschreibung vollständig und ausreichend detailliert ist. Wenn beispielsweise nur ein WLAN-Accesspoint ohne weitere Anforderungen ausgeschrieben wird, kann diese Beschreibung auch mit einem beliebigen, veralteten oder nicht hinreichend performanten Gerät erfüllt werden. Dies kann dann trotz mangelfreier Erfüllung zu hohen Folgekosten führen.

Liegt ein Mangel vor, kann Nacharbeit in einem angemessenen Rahmen verlangt werden. Alternativ kann auch eine erneute Leistung statt der Nachbesserung gewählt werden. In der Praxis würde dies im obigen Beispiel bedeuten, dass der defekte WLAN-Accesspoint durch einen neuen ausgetauscht wird.

Üblicherweise wird bei der Vertragsgestaltung der Einfluss der Mangelbegriffes oder die Bedingungen der Mängelbeseitigung im IT-Bereich konkretisiert. Wie solche Verträge in der IT-Vergabe aussehen können, zeigen die EVB-IT Verträge. Diese können zur Beschaffung für eine explizite IT-Leistung, wie eine Hardware, oder für mehrere Leistungen, die nicht nur für sich alleine vertragsgemäß sein müssen, sondern auch in ihrer Wechselwirkung, um das gewünschte IT-System zu ergeben[6], eingesetzt werden. Dem öffentlichen Auftraggeber stehen viele Möglichkeiten offen. Sofern die eigene Expertise in diesem Bereich gering ist, empfiehlt es sich, einen spezialisierten Experten um Rat zu bitten.

4. Ein Nachtrag im Vergaberecht ist teuer

Das kommt drauf an, insbesondere auf die Frage, ob überhaupt ein Nachtrag vorliegt. Ein Nachtrag stellt eine Leistungsforderung dar, die im Vertrag bisher nicht vorgesehen ist. Ein Nachtrag kann zum Beispiel notwendig werden, wenn der Auftraggeber nachträglich weitere Funktionalitäten benötigt. Grundsätzlich müssen Nachträge im Vergaberecht nach dem strengen Regime des § 132 GWB ausgeschrieben werden.[7] Das gilt vor allem für wesentliche Änderungen während der Vertragslaufzeit.

Es gibt jedoch auch Ausnahmen (§ 132 Abs. 2 und 3 GWB). Sofern die sog. De minimis-Werte nicht überschritten sind, ist die Änderung ohne Ausschreibung zulässig. Das ist der Fall, wenn die Summe der zusammengerechneten Nachträge die Grenzwerte nach § 106 GWB nicht übersteigen und bei Bauaufträgen 15 Prozent bzw. bei Liefer- oder Dienstleistungsaufträgen 10 Prozent des ursprünglichen Auftragswertes nicht übersteigen.[8]

Sofern der Nachtrag diese Grenzen überschreitet, kann nach § 132 Abs. 2 GWB auf eine Ausschreibung verzichtet werden, z.B. bei Zusatzaufträgen, die nicht sinnvoll vom Hauptauftrag getrennt werden können. Dies ist der Fall, wenn ein Wechsel aus wirtschaftlichen oder technischen Gründen nicht erfolgen kann und mit besonderen Schwierigkeiten oder beträchtlichen Zusatzkosten verbunden ist. Sofern der Bieter eine individuell für den Auftraggeber erstellte Software als Basis für seine Leistung nutzt, kommt die Ausnahme für Nachträge mit einer maximalen Preissteigerung von 50 Prozent des ursprünglichen Auftragswertes in Betracht. Diese Grenze gilt für jeden weiteren Nachtrag aufs Neue, sofern es sich nicht um eine Umgehung handelt.[9]

Weiter kann eine Änderung ohne Ausschreibung rechtmäßig sein, wenn sie aufgrund von Umständen notwendig geworden ist, die der öffentliche Auftraggeber im Rahmen seiner Sorgfaltspflicht nicht vorhersehen konnte und sich dadurch der Gesamtcharakter des Auftrages nicht ändert. Hier kämen Fälle der höheren Gewalt in Betracht.

Insgesamt ist es ratsam sich als öffentlicher Auftraggeber bereits frühzeitig mit der Auftragsausgestaltung zu beschäftigen und z.B. vertraglich und in den Vergabeunterlagen Fristen zu setzen, die das Eintreten des Bedarfs eines Nachtrages hinauszögern. Um Rechtssicherheit herzustellen, sollte jedenfalls ein erfahrener Anwalt das Nachtragsangebot durchsehen und eine Nachtragsprüfung durchführen.

5. Der Bieter darf nur das anbieten, was in der Ausschreibung ausgeschrieben worden ist

Im Regelfall stimmt diese Aussage. Der öffentliche Auftraggeber muss im Rahmen seines Auftrags die umfangreichen Regelungen des Vergaberechts berücksichtigen. Einige dieser Regelungen verpflichten den Auftraggeber das Vergabeverfahren zurückzusetzen, wenn die Auftragsbekanntmachung und die Vergabeunterlagen Widersprüche aufweisen.

Ein ähnliches Prinzip gilt ebenfalls für sog. Nebenangebote. Das sind alternative Vorschläge, die von dem geforderten Hauptangebot abweichen. Weicht ein Angebot aber von der Leistungsbeschreibung ab, stellt diese eine unzulässige Änderung der Vergabeunterlagen dar. Das führt zwingend zum Ausschluss des Bieters in Bezug auf das Angebot. Eine nachträgliche Zulassung ist nicht möglich.[10] Hintergrund ist es, einen möglichst transparenten Wettbewerb zu gewährleisten.

Der öffentliche Auftraggeber kann jedoch ausdrücklich die Einreichung von Nebenangeboten erlauben.

Sie müssen aber die Mindestanforderungen, die auch für das Hauptangebot gelten, einhalten.[11] Bei der Formulierung dieser Anforderungen reicht es für den Auftraggeber nicht aus, nur den Preis als Wertungskriterium anzugeben. Vielmehr müssen zuvor transparent Kriterien formuliert werden, die der Bieter bei der Abgabe seines Angebotes berücksichtigen kann. Wird den Mindestanforderungen nicht entsprochen, kann der Auftraggeber dieses Nebenangebot auch nicht in den Auswahlprozess aufnehmen.

Gerade bei komplexeren IT-Ausschreibungen ist es regelmäßig von Vorteil Nebenangebote zuzulassen. Denn in Nebenangeboten können Bieter Umsetzungsalternativen aufzeigen, die zu Kostenersparnissen führen. Weiter kann der öffentliche Auftraggeber vom Spezialwissen des Bieters profitieren, welches sich mittelbar in einer zeitlichen Verkürzung, geringerer Wartungsintensität oder ähnlichem niederschlagen kann.

Zusammengefasst: 5 Mythen des öffentlichen Vergaberechts

Wir hoffen Ihnen mit diesem Beitrag verdeutlicht zu haben, dass Mythen zwar einen Funken Wahrheit enthalten, die Realität häufig aber nicht komplett abbilden. Viele von ihnen entstehen aus in der Praxis geprägten Standards und Erfahrungen. Sie spiegeln jedoch nicht alle gesetzlich Möglichkeiten wider.

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Kristian Borkert

Kristian Borkert

Co-Autor

Kristian Borkert ist Gründer der JURIBO Anwaltskanzlei und hat sich insbesondere auf den Bereich IT, Wirtschaftsrecht und Datenschutz spezialisiert.

Anastasia Nomerowskaja

Anastasia Nomerowskaja

Co-Autorin

Anastasia Nomerowskaja ist wissenschaftliche Mitarbeiterin und Social Media Managerin der JURIBO Anwaltskanzlei mit einem Bachelorabschluss in Deutschem und Europäischen Wirtschaftsrecht.

 [1] Vgl. Europäische Kommission, The Digital Economy and Society Index (DESI), https://digital-strategy.ec.europa.eu/en/policies/desi  (abgerufen am 10.05.2022).

[2] Europäische Kommission, Digitale Wettbewerbsfähigkeit innerhalb der EU: Deutschland auf Platz 12, https://www.bidt.digital/digitale-wettbewerbsfaehigkeit-innerhalb-der-eu-deutschland-auf-platz-12/ (abgerufen am 10.05.2022).

[3] Vgl. OLG Celle, Beschluss vom 31.03.2020 – 13 Verg 13/19, Rn. 48 ff. (Juris); OLG Düsseldorf, Beschluss vom 13.04.2016 – VII-Verg 47/15, Rn. 22 ff (Juris).

[4] OLG Brandenburg, Beschl. v. 08.07.2021 – 19 Verg 2/21, https://gerichtsentscheidungen.brandenburg.de/gerichtsentscheidung/19521 (Entscheidungsdatenbank Brandenburg).

[5] Vgl. § 60 VgV; Insbesondere für Bauleistungen: § 16d EU Abs. 1 VOB/A.

[6] Der Beauftragte der Bundesregierung für Informationstechnik, IT-Beschaffung – Basisverträge und Systemverträge (abrufbar unter  https://www.cio.bund.de/Web/DE/IT-Beschaffung/EVB-IT-und-BVB/Aktuelle_EVB-IT/aktuelle_evb_it_node.html).

[7] Vgl. § 132 GWB bzw. § 22 EU VOB/A.

[8] Vgl. § 132 Abs. 3 GWB.

[9] Vgl. § 142 Nr. 3 GWB.

[10] Vgl. VK Bund, Beschl. v. 07.09.2020 – VK1-68/20 (Bundeskartellamt).

[11] Vgl. § 35 VgV; § 8 Abs. 2 Nr. 3 EU VOB/A.